Almut Anders
"Auf Augenhöhe"
Jugendroman in Einfacher Sprache
Taschenbuch, 173 Seiten
ISBN: 978-3-946185-27-7
Auf Augenhöhe ist eine Liebesgeschichte.
Mit dabei:
Ein Hund, eine Jacke, eine Uhr.
Ein Friedhof, ein Balkon, eine garstige Nachbarin.
Zwei Mütter und eine Schwester, die es gut meinen.
Freund*innen und Feind*innen.
Ein Stuhl, eine Gärtnerei, und die Polizei.
Und mittendrin:
Lena, 15, deutsch, gehörlos.
Samir, 16, syrisch, hörend.
Die Geschichte ist in Einfacher Sprache geschrieben.
So können sie fast alle lesen und verstehen.
Leseprobe
Unsichtbar
Samir steht auf dem Balkon. Er guckt die Leute an, die unten vorbeigehen. Manche gehen schnell. Andere gehen langsam. Manche singen. Einer popelt in der Nase. Samir grinst. Die Leute merken
nicht, dass er sie beobachtet. Auf dem Balkon ist er unsichtbar.
Auf der Straße ist das anders. Alle Leute gucken ihn an. Meistens gucken sie unfreundlich.
Manchmal gucken sie böse. Die bösen Blicke sind besonders schlimm. Sie stechen wie Nadeln in seine Haut.
Auf dem Balkon kann Samir gucken, so viel er will. Und so lange wie er will.
Heute ist der Himmel blau. Samir denkt an Zuhause.
Zuhause, das ist sein Dorf in Syrien.
Zuhause ist, wo die Leute ihn kennen.
Zuhause ist, wo es keine bösen Blicke gibt.
Früher wohnte Samir in einem großen Haus mit 2 Stockwerken. Im Erdgeschoss gab es eine große Küche. Daneben war das Esszimmer mit den hellgrünen Wänden und dem runden Eichentisch. Im oberen
Stockwerk gab es 3 Schlafzimmer und ein Bad. Hinter dem Haus war die Werkstatt seines Vaters. Und hinter der Werkstatt war ein großer Garten. Darin stand ein alter Feigenbaum, der im Sommer süße
Früchte trug.
Den Baum hatte der Großvater bei der Geburt von Samirs Vater gepflanzt.
Samir schließt die Augen.
In Gedanken geht er durch das Haus. Zuerst geht er in die Küche und sieht nach, was es zu essen gibt.
Auf dem Herd steht ein großer Topf. Es duftet nach Lamm-Eintopf mit Paprika, seinem Lieblingsessen.
Im Ofen backen die Fladenbrote, gleich sind sie fertig. Samir stellt sich vor, wie er die Ofenklappe öffnet und ein Stück heißes Brot abreißt. Er steckt es sich in den Mund. Es schmeckt
köstlich.
Von der Küche geht Samir ins Esszimmer. Die Familie sitzt am Tisch. Sie sind eine große Familie.
Samirs Mutter, sein Vater, seine Schwester, die Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins, alle sind da. Samir sieht ihre lachenden Gesichter.
„Komm, setz dich zu uns“, sagt Samirs Vater.
Samir öffnet die Augen und das schöne Bild vom Zuhause ist weg.
Und dann kommen die anderen Bilder. Die schlimmen Bilder, die er lieber vergessen will.
Der Krieg
Eines Tages kam der Krieg ins Dorf.
Samir spielte mit seinen Freunden auf dem Schulhof Fußball. Plötzlich hörten sie ein Motorengeräusch in der Luft. Es kam näher und näher. Die Sonne stand hoch am Himmel.
Samir wurde von den silbernen Flügeln geblendet, so tief flogen die Flugzeuge.
Alles ging blitzschnell. Ehe Samir weglaufen konnte, fiel eine Bombe auf das Schulhaus.
Es krachte und knallte. Die Druckwelle warf ihn zu Boden. Steine flogen über den Schulhof.
Er hörte die anderen Kinder schreien.
Samir schützte seinen Kopf mit den Armen.
Der Staub nahm ihm den Atem und er fürchtete, zu ersticken.